Die Erstreckung der (kartell-)bußgeldrechtlichen Verantwortlichkeit auf wirtschaftlich nahezu identische Rechtsnachfolger stellt keinen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 2 GG dar.

Abs. 2 GG zieht auch für die Auslegung von Bußgeldvorschriften eine verfassungsrechtliche Schranke[1]. Da Gegenstand der Auslegung gesetzlicher Bestimmungen immer nur der Gesetzestext sein kann, erweist dieser sich als maßgebendes Kriterium: Der mögliche Wortsinn des Gesetzes markiert die äußerste Grenze zulässiger richterlicher Interpretation. Wenn Art. 103 Abs. 2 GG Erkennbarkeit und Vorhersehbarkeit der Bußgeldandrohung für den Normadressaten verlangt, so kann das nur bedeuten, dass dieser Wortsinn aus der Sicht des Bürgers zu bestimmen ist[2]. Diese Grenze haben die Fachgerichte mit ihrer Interpretation von § 30 Abs. 1 OWiG nach der Einschätzung des Bundesverfassungsgerichts nicht überschritten.
Die Auffassung, dass die Festsetzung einer Geldbuße gegen eine Gesamtrechtsnachfolgerin, die mit der ursprünglichen juristischen Person bei wirtschaftlicher Betrachtungsweise nahezu identisch ist, von diesem Wortlaut nicht mehr erfasst wird, trifft nicht zu. Gerade aus Sicht eines unvoreingenommenen Bürgers dürfte in diesen Fällen die Annahme einer fortdauernden bußgeldrechtlichen Verantwortlichkeit zur Vermeidung der Umgehungsgefahr nahe liegen.
Unbestritten ist dementsprechend, dass eine bloße Umfirmierung und auch der alleinige Wechsel der Rechtsform einer Verantwortungszurechnung nach § 30 Abs. 1 OWiG in der Regel nicht entgegenstehen[3]. Aber auch bei weitergehenden gesellschaftsrechtlichen Umgestaltungen kann von einer Verhängung der Geldbuße gegen „diese“ juristische Person gesprochen werden, wenn es sich aus Sicht des Bürgers faktisch um die gleiche juristische Person handelt. Die hierfür vom Bundesgerichtshof entwickelten Kriterien – Gesamtrechtsnachfolge und „Nahezu-Identität“ bei wirtschaftlicher Betrachtungsweise[4] – sind dabei geeignet, die Voraussetzungen für die Annahme einer Verantwortungszurechnung hinreichend zu konkretisieren.
Auch der Wille des Gesetzgebers stützt die vom Bundesgerichtshof vorgenommene Auslegung. Denn Zweck der Geldbuße für juristische Personen ist die Schaffung eines Ausgleichs dafür, dass der juristischen Person, die nur durch ihre Organe zu handeln im Stande ist, zwar die Vorteile dieser in ihrem Interesse vorgenommenen Betätigung zufließen, dass sie aber beim Fehlen einer Sanktionsmöglichkeit nicht den Nachteilen ausgesetzt wäre, die als Folge der Nichtbeachtung der Rechtsordnung im Rahmen der für sie vorgenommenen Betätigung eintreten können. Dementsprechend sollen die der juristischen Person zugeflossenen Gewinne abgeschöpft und die Erzielung solcher Gewinne bekämpft werden[5]. Der Bundesgerichtshof ermöglicht mit seiner Rechtsprechung die Erreichung dieser Ziele auch bei wirtschaftlich zumindest weitgehend identischen Rechtsnachfolgern.
Demgegenüber kann die Ansicht, der Begriff der juristischen Person sei aus Gründen der Einheit der Rechtsordnung in einem „fachsprachlichen“ Sinne auszulegen, nicht überzeugen. Es bleibt einerseits unklar, welchen Inhalt dieses fachsprachliche Verständnis haben soll, während die Beschwerdeführerin andererseits außer Acht lässt, dass in einer zwar einheitlichen, aber je nach Sachbereichen differenzierten Rechtsordnung eine „Relativität der Rechtsbegriffe“ angelegt ist[6].
Hinzu kommt, dass für die Rechtsnachfolgerin das Risiko ihrer Heranziehung bei der Ahndung der Kartellordnungswidrigkeit zumindest aufgrund der bisherigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs vorhersehbar sein musste[7]. Der Bundesgerichtshof hatte seine grundlegende Entscheidung aus dem Jahr 1986 mehrfach und auch unmittelbar vor der Umwandlung der M. GmbH bestätigt[8]. Auch in der Rechtsprechung der Obergerichte[9] und von der überwiegenden Meinung in der Literatur wird die Rechtsauffassung des Bundesgerichtshofs geteilt[10].
Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 20. August 2015 – 1 BvR 980/15
- vgl. BVerfGE 87, 399, 411 m.w.N.[↩]
- vgl. BVerfGE 71, 108, 115[↩]
- vgl. Meyberg, in: BeckOK OWiG, § 30 Rn. 39, 41, 15.12 2014 m.w.N.[↩]
- vgl. BGHSt 52, S. 58 ff.; BGH, Beschluss vom 11.03.1986 – KRB 8/85; Beschluss vom 23.11.2004 – KRB 23/04; Beschluss vom 04.10.2007 – KRB 59/07[↩]
- vgl. BT-Drs. V/1269, S. 59 f.[↩]
- vgl. BVerfG, Beschluss vom 27.12 1991 – 2 BvR 72/90[↩]
- vgl. dazu BVerfGE 73, 206, 243; 126, 170, 196 f. m.w.N.[↩]
- vgl. BGHSt 57, S.193 ff.; BGH, Beschluss vom 10.08.2011 – KRB 2/10; Beschluss vom 10.08.2011 – KRB 55/10[↩]
- vgl. BayObLG, Beschluss vom 28.05.2002 – 3 ObOWi 29/02; OLG Düsseldorf, Urteil vom 13.01.2010 – VI-Kart 55/06, OWi u.a.; s.a. schon KG, Urteil vom 18.04.1984 – Kart. a 27/83[↩]
- vgl. Gürtler, in: Göhler/Gürtler/Seitz, OWiG, 16. Aufl., 2012, § 30 Rn. 38c; Rogall, in: Karlsruher Kommentar OWiG, 4. Aufl., 2014, § 30 Rn. 46 ff. m.w.N. auch zur Gegenauffassung; Förster, in: Rebmann/Roth/Herrmann, OWiG, § 30 Rn. 50 ff., April 2014[↩]